In der interpretativen Geomantie spielt die Kirchen- und Heiligenforschung eine wichtige Rolle zur Erschließung und Deutung von Ortsqualitäten. Über Kirchenpatrozinien und die Darstellung von bestimmten Heiligen an Gebäuden in Kirchen und Kapellen können wir – unter anderem - auf die ursprüngliche und vorchristliche Bedeutung von Orten schließen.
In dieser Reihe gehe ich – im Jahreslauf - auf bedeutende christliche Heilige ein und beleuchte sie im vorchristlichen Kontext.
Der 23. April ist Georgi-Tag. Wir alle kennen das Bild des heiligen Georg, wie er, auf einem Pferd sitzend, gegen den Drachen kämpft. Es gehört zu den bekanntesten Darstellungen von Heiligen der Christenheit. Er ist Patron von England – dort sind ihm an die 160 Kirchen geweiht -, Schutzheiliger von Genua, und Georgien verdankt ihm seinen Namen. Es gibt – wie bei vielen christlichen Heiligen - keine verlässlichen Daten über sein Leben und Wirken. Er soll schon im Jahre 300 gelebt haben, aber erst im Mittelalter wurde über ihn gesprochen. Sehr wohl aber gibt es zahllose Legenden, die ihn mehr zu einer mythologischen Figur machen.
Die bekannteste ist jene von Jacopo da Voragine. Nach dieser Legende entstammte Georg einer vornehmen Familie aus Kappadokien in der heutigen Türkei. Er war bereits zum Christentum konvertiert und diente im Heer des römischen Kaisers Diokletian, einem der hartnäckigsten Christenverfolger. Es war eine Zeit, in der das Land von einem Drachen tyrannisiert wurde. Täglich wurden ihm zur Besänftigung zwei Schafe geopfert. Als keine Schafe mehr übrig waren, verlangte er nach Menschenopfern. Die zu opfernden Menschen wurden ausgelost. Eines Tages traf das Los auf Cleolinda, die einzige Tochter des Königs. Cleolinda trat in Brautkleidung ihren Opfergang an, als plötzlich Georg erschien und den Drachen mit einer Lanze verletzte. Er ritt mit Cleolinda und dem verletzten Drachen im Schlepptau zurück in die Stadt, führte den verletzten Drachen vor das Volk und erklärte, nur Gott konnte dieses Wunder vollbringen. Er versprach den Drachen zu töten, wenn sich alle Einwohner der Stadt von ihm taufen ließen. Volk und König waren damit einverstanden und 15.000 Menschen traten zum Christentum über. Also gab Georg dem Drachen den tödlichen Hieb.
Im Jahre 305 soll Georg schließlich von Christenverfolgern festgenommen worden sein. Alle Folterungen überstand er ohne Verletzungen. Diese Wunder beeindruckten die Kaiserin so sehr, dass sie sich zum Christentum bekehren ließ. Georg und die Kaiserin wurden schließlich vor den Toren der palästinensischen Stadt Lydda-Diospolis enthauptet.
Durch die Kreuzfahrer kam Georg nach Europe und wurde dort alsbald hoch verehrt, aber nicht wegen des Märtyrertums, sondern aufgrund seiner Ritterlichkeit. Bald trugen 13 Ritterorden seinen Namen. So war es nicht verwunderlich, dass Georg zum Schutzpatron der Ritter wurde. Er ist unter anderem auch Patron der Pfadfinder, der Bauern (geos = Erde und orge = bauen), der Bergleute, der Sattler, der Pferde und des Viehs.
Vor allem im bäuerlichen Leben wurde Georg zu einem wichtigen Heiligen. Ab dem Georgi-Tag dürfen die Felder nicht mehr betreten werden. Er ist Wetterheiliger und Schneebringer: „St. Georg kommt nach alten Sitten auf einem Schimmel geritten“. Am Georgstag konnten die Dienstboten ihren Dienstherrn wechseln. Zinsen wurden früher nur bis zum Georgstag gestundet. Die Pferde werden an diesem Tag gesegnet und vielerorts gab und gibt es an diesem Tag oder am darauffolgenden Sonntag die Pferdeumritte – auch Georgiritte genannt.
In der Ikonographie wird Georg meist als Ritter, mit oder ohne Pferd, mit einem durch eine Lanze durchbohrten bzw. fixierten Drachen dargestellt.
Wer ist nun dieser Drache, oder diese Drachin, den oder die Georg verletzt, fixiert oder kontrolliert und was will uns das Bild vom Drachenbesieger erzählen?
Das Wort „Drache“ leitet sich vom altgriechischen „drakon“ ab. Drakon wird im Griechischen synonym für Schlange und Drache verwendet. Drakon leitet sich vermutlich von „derkomai“ ab, was wiederum Sehen, Blicken meint und sich auf den starren bzw. scharfen Blick der Schlangen bezieht.
Die ersten Schlangendarstellungen sind aus dem Jungpaläolithikum bekannt. Zu jener Zeit sahen sich die Menschen eingebunden in die großen und kleinen kosmischen Zyklen, die allesamt vom Werden, Sein, Vergehen und Wiederkehr geprägt waren. Alles Leben auf Erden unterliegt einem beständigen und rhythmischen Wandel zwischen Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Tod. Unsichtbare göttliche Wirkkräfte sind lebengebend, todbringend und verwandelnd. Diese unsichtbaren Wirkkräfte wurden als göttlich-weiblich verstanden. Es war die große Schöpfergöttin des Universums, die aus ihrem schwarzen Uterus heraus das Weltenei legte und die Mutter Erde selbst, die alles Leben auf Erden hervorbringt. Es war die eine große Göttin, Herrin über Leben, Tod, Wandlung, Erneuerung und Wiederkehr. Die offensichtlichste Entsprechung war die Natur selbst, mit ihren immerwährenden Zyklen und ihrer Vielheit in der Einheit.
Die Kraft oder Macht dieser lebengebenden und erneuernden Göttin wohnte in allem. In Bergen, im Wasser, in Pflanzen, in Tieren. Sie konnte ein Stein sein, ein Baum, ein Vogel, eine Bärin oder eine Schlange.
Vor allem die Symbolik der Schlange macht die Einheit mit der Natur besonders deutlich. Durch den Prozess der Häutung und ihres Erwachens nach dem langen Winterschlaf galt sie als unsterblich. Sie konnte sich mittels ihrer immensen Lebenskraft aus sich selbst heraus erneuern. Wenn sie sich über das Land schlängelt oder windet, verströmt sie ihre Lebenskraft nach allen Seiten in das Land hinein und die lebenden Geschöpfe in ihrer Umgebung. Die Schlange stand auch für die Verbindung zwischen dem Leben und dem Tod und verkörperte die Kraft der Vorfahren. Die Schlange wachte über die Erhaltung der Lebenskraft, das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen. So wurde die Schlangen zu einem der bedeutendsten Symboltiere der Göttin, des göttlich-weiblichen.
Mit dem Aufkommen der patriarchalen Kulturen und Gesellschaftsordnungen veränderte sich die Weltsicht grundlegend. Der Mensch wurde außerhalb bzw. über die Natur gestellt und wurde als Vernunftwesen definiert. Nur er hatte einen Geist und konnte denken. Der übrigen Natur wurde das Geistige abgesprochen – sie wurde zur bloßen Materie. Die Götter begannen die eine große Göttin abzulösen und im Mittelpunkt der Gesellschaften stand nicht mehr die Frau, sondern der Mann. Im christlichen Kontext wurde der Mensch zur Krone der Schöpfung erhoben. Die polare Einheit der Welt wurde aufgespalten, es gab plötzlich Gut und Böse. Die listige Schlange wurde zum Sprachrohr des Teufels und Inbegriff alles Bösen, die Frau zur Verführerin, vor der Mann sich in Acht nehmen musste. Der Geist (Mann) erhebt sich endgültig über die Materie (Frau).
Das Bild vom Drachenbesieger Georg erzählt die Geschichte vom Machtkampf zwischen der männlichen Macht, dem Geist, die positiv dargestellt wird und der weiblichen Macht, der Materie, die negativ dargestellt wird. Die neue Religion hat über die alte „Religion“ obsiegt. Die geistige Ordnung kontrolliert das schöpferische Chaos, die ungezügelte Lebenskraft, den Chaos-Drachen oder die Chaos-Drachin. Der Drache oder die Schlange stand jetzt auch - im negativen Sinn - für die weibliche Magie der Heilerinnen und Hebammen, die von der Kirche vehement abgelehnt wurde. Die weisen Frauen wurden zu bösen Hexen, die es zu verfolgen galt. Ihr Wissen wurde von nun an von männlichen Mönchen aufgeschrieben, monopolisiert und zensiert.
Titelbild: Heiliger Georg - Museum Burg Vischering ; Licence: CC BY-NC-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/)
Literatur:
Schauber/Schindler: Heilige und Namenspatrone im Jahreslauf
Marija Gimbutas: Die Sprache der Göttin
Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros
Heide Göttner-Abendroth: Die tanzende Göttin
Heide Göttner-Abendroth: Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats
Edith Marmon: Drache und Schlange - die heiligen Tiere der Göttin
Ranke-Graves/Patai: Hebräische Mythologie
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