Mythologische, natürliche und anthropogene Mitten in der Geomantie
Die Mitte ist gleichzeitig ein Ankerpunkt der Kraft, aber auch jener Punkt, aus dem heraus die Kraft auf das Umfeld wirkt. Das kennen wir von uns selbst: Ganz in unserer Mitte angekommen, sind wir vollkommen präsent und ganz in unserer Kraft – wir haben Strahlkraft und ruhen in unserer Mitte. Sind wir hingegen aus unserer Mitte gerissen, sind wir „unrund“. Wir fühlen uns unsicher und orientierungslos.
Bereits ganz zu Beginn unseres stofflichen Seins, lernen wir die Kraft der Mitte kennen. Wir wachsen geschützt und gewärmt im Bauch – der Mitte unserer Mutter - heran un,d sind aus unserer Mitte, dem Bauchnabel, mit unserer Mutter verbunden. Wir werden aus der Mitte unserer Mutter über unsere Mitte mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt.
So ist es wenig verwunderlich, dass ein Ort, der eine kraftvolle Mitte besitzt, bei uns Menschen ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Wärme auslöst und uns Orientierung gibt. Orte ohne Mitte vermitteln hingegen Leere, Kühle, Schutzlosigkeit und Orientierungslosigkeit.
Wie bereits angedeutet, haben nicht nur wir Menschen unsere Mitte, sondern auch Landschaftsräume. Solche Punkte bezeichnen wir in der Geomantie als Landschaftszentren. Äußerlich zeigen sich Landschaftszentren häufig als markante, kegelförmige Hügel, oder pyramidenförmige Berge. Manchmal sind es auch Tafelberge mit einer leichten Einbuchtung. Sie wirken mit den ihnen immanenten Mitten-Qualitäten auf die Landschaft, die sie umgibt und verleihen
ihr ihren Charakter. Um solche Zentren herum entwickelt sich etwa eine ortstypische Vegetation und die dort lebenden Menschen sind von einem bestimmten „Menschenschlag“. Solche Landschaftszentren waren für die frühen Menschen wichtig und heilig und entwickelten sich zu Kultplätzen der dort ansässigen Kulturen. Hier feierten sie ihr Jahreskreisfeste zu Ehren ihrer großen Urmutter, ihrer Ahnfrau der Schöpfergöttin Mutter Erde. Durch Rituale und das Aktivieren von entsprechenden Symbolen, unterstützten sie die unsichtbaren Wirkkräfte der großen Göttin, die über Orakel an solchen „Kraftplätzen“ zu den Menschen sprach. Solche natürlichen Mitten gaben den Menschen Sicherheit und Orientierung.
Natürliche Mittenberge erkennen wir auch an Kirchen mit bestimmten Patrozinien, die heute an solchen Orten stehen. Häufig sind es „Katharina-Kirchen“ oder "Nikolaus-Kirchen". Die heilige Katharina ist neben Barbara und Margarethe eine der drei weiblichen Heiligen unter den 14 Nothelfern. „Margarethe mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm und Katharina mit dem Radl das sind die Heiligen drei Madeln“. Sie waren das Angebot der christlichen Führer an die vielen Menschen in deren Volksglauben sich, trotz Missionierung, noch lange die Verehrung der drei Bethen, als Nachfolgerinnen der dreigestaltigen Göttin, gehalten hat. Katharina hat, wie oben erwähnt, als Attribut das Rad. Das vier- oder sechsspeichige Rad steht symbolisch für die göttliche Mitte, die durch die Nabe markiert wird. Jene unanschauliche Mitte, in der die unsichtbare göttliche Kraft ruht, die alles immerfort um die Mitte drehen lässt.
In vielen Schöpfungsmythen, so z.B. in der sumerischen, der nordisch- germanischen oder auch der christlichen bzw. jüdischen, steht in der Mitte der Schöpfung ein Weltenbaum. Er spannt mit seiner Baumkrone und seinen Wurzeln den Schöpfungsraum auf und ist gleichzeitig Zeiger der Zeit. Wenn der Weltenbaum zu schwanken beginnt, naht das Ende der Schöpfung.
In den hinduistischen und buddhistischen Mythologien wiederum steht in der Mitte der Schöpfung der Weltenberg Meru, der ebenfalls den Schöpfungsraum aufspannt. Er erhebt sich 84000 Yojana über die Erdoberfläche und 84000 Yojana in die Unterwelt hinab.
In der Mitte, sowohl im Weltenberg als auch im Weltenbaum, treffen sich die die sechs Richtungen; die vier Kardinalrichtungen (Osten, Westen, Norden, Süden), sowie das Oben und das Unten. Hier schneiden sich die 3 Weltenachsen. Hier treffen sich die Kräfte der sechs Richtungen und lassen eine neue Kraft entstehen, die Quintessenz, die göttliche Kraft, die aus der Mitte heraus auf den gesamten Schöpfungsraum wirkt. So erklärt sich die heilige, göttliche Sieben. Sie ist die unanschauliche Mitte, in der alles ruht und um die herum sich gleichzeitig alles dreht. So kann ein Siebeneck nicht konstruiert werden. Die Sieben beschreibt das reine Sein.
Als die Menschen begannen, sich eigene Behausungen zu bauen, übernahmen sie das Konzept der Mitte für ihren Wohnraum, da ihnen bewusst war, wie notwendig eine kraftvolle Mitte für ihr seelisches Wohlbefinden war. In einer der archaischsten Behausungen - der Jurte - befindet sich in der Mitte die Feuerstelle, das (nicht nur physisch) nährende und wärmende Zentrum des Hauses. Das Konzept der Feuerstelle als Mitte des Wohnraums hat sich lange gehalten. In den Bauernhäusern im Alpenraum stand in der Mitte des Hauses lange der Tischherd und oft auch der Brotbackofen. Er nährte und wärmte die Menschen – sowohl physisch wie seelisch. Erst mit der „modernen“ Bauweise verschwand der Herd an den Rand des Hauses. In der Mitte finden wir heute oft einen leeren Gang oder die Diele. Solche Wohnräume empfinden wir meistens als kalt und leer – sie sind aus ihrer Mitte gerissen.
Weitere anthropogene Mitten finden wir im Städtebau. Den frühen Städtebauern und -planern war die Kraft einer Stadtmitte bewusst. Sie hält die Stadt zusammen, gibt den Menschen Sicherheit, Halt und Orientierung. Der etruskische Augur wurde bei der Gründung einer Stadt von den göttlichen Wirkkräften geführt. Zeigten sie ihm den Platz für die neu zu gründenden Stadt, wies er mit seinem Lituus auf den zukünftigen Mittelpunkt dieser Stadt. Dort wurde eine Grube gegraben und mit einem Stein abgedeckt. Alle Ritualgegenstände, die bei den verschiedenen Zeremonien der Stadtgründung verwendet wurden, waren heilige Werkzeuge, die nur für diesen Zweck Verwendung finden durften. Sie wurden in dieser Grube begraben und waren so für immer mit dieser Stadt verbunden. In der Mitte der Stadt treffen sich die zwei Hauptstraßen. Die eine führte vom Nord- zum Südtor der Stadt und die andere vom Ost- zum Westtor. Die Römer übernahmen dieses Konzept von den Etruskern und wir kennen diese beiden Hauptstraßen heute als cardo maximus und decumanus maximus. Sie bilden zwei der Weltenachsen ab. Die Grube in der Mitte deutet die dritte Weltenachse, die Senkrechte an.
Einmal im Jahr wurde die Grube geöffnet, um dort die ersten Früchte der jährlichen Ernte den göttlichen Wirkkräften zum Dank zu opfern und um die Stadt symbolisch zu nähren. In Rom markiert heute noch der Lapis Niger das alte Stadtzentrum. In vielen Städten und Dörfern wurden bis weit in die frühe Neuzeit hinein, die Ortsmitte durch Türme oder Brunnen markiert und gestaltet. "Moderne" Städte ohne Mitte tendieren auseinanderzudriften. Es gibt keinen Ankerpunkt, an dem sich die Bewohner orientieren können und von dem sich die Lebenskraft in die Stadt ergießen kann. Ähnlich Wohnräumen ohne Mitte, empfinden wir auch Städte ohne kraftvolle Mitte als charakter- und seelenlos.
Hat ein Wohnraum keine Mitte - etwa durch einen Feuerherd oder Ofen - kann die Mitte des Wohnraums konstruiert und gestaltet werden. Es genügt aber nicht, nur einmal eine Mitte zu konstruieren und diese dann zu „vergessen“. Damit eine Mitte kraftvoll bleibt, muss ihr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Genauso wie wir Menschen regelmäßig und bewusst in unsere Mitte gehen, um ihre Kraft zu aktivieren, müssen wir auch einer anthropogenen Mitte, also z.B. der gestalteten Wohnungs- oder Ortsmitte regelmäßig unsere Aufmerksamkeit schenken.
Das gelingt bei der Wohnungsmitte durch kleine „Geschenke“ durch die Bewohner, durch bewusstes Beachten, durch bewusste Gedanken und Emotionen, durch kleinere und größere regelmäßige Rituale bzw. durch das Aktivieren von Symbolen. Bei der Ortsmitte hilft die ganze Gemeinschaft mit. Die Jahreskreisfeste werden hier gefeiert. So wird z.B. der Maibaum in der Mitte aufgestellt, oder der Dorfbrunnen wird geschmückt, der Erntedank wird hier gefeiert, oder es werden jährlich die Grenzen umschritten, um sich zum Abschluss in der Mitte des Ortes zu treffen.
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