Bedeutender, jungsteinzeitlicher Kult- und Kraftplatz im Vinschgau
Der Tartscher Bichl ist einer der beeindruckendsten und bedeutendsten Kult- und Kraftorte Südtirols. Er ist das Zentrum eines jungsteinzeitlichen Frauenheiligtums am und um diesen Hügel herum.

Den jungsteinzeitlichen Siedlerinnen und Siedlern manifestierte sich in diesem markanten Hügel die große, dreigestaltige Göttin. Konkret ihr schwangerer Erdbauch. Die alte, romanische Kirche, die am Ostende des Hügels thront, ist dem Heiligen Veith geweiht. Sein Attribut ist der Kessel, der auf sein Martyrium hinweisen soll. Der Kessel deutet aber auch auf einen der drei Aspekte der dreigestaltigen Göttin hin, der hier einst verehrt wurde. Der Kessel des Heiligen Veith tradiert die Göttin in ihrem schwarzen Aspekt ins Christentum. Im schwarzen Aspekt zeigt sie sich im Herbst. Sie ist die Tod-im-Leben Göttin, Herrin der Anders- und Unterwelt. In ihrem magischen Kessel hütet sie alle Lebensweisheiten und die Mysterien von Tod und Wiedergeburt. Am Ende kehrt Alles und Jeder zu ihr zurück. Auch die Seelen der Verstorbenen holt sie zu sich, um sie im Kessel – dem Jungbrunnen - zu transformieren und zu verjüngen und um sie zu gegebener Zeit als Kinderseelen auf die Erde zurückzuschicken.

Von diesem ewigen Zyklus des Kommens und Gehens erzählen auch die heidnischen Glocken, die einst im Turm der Kirche geläutet haben sollen. Das Läuten soll wie folgt geklungen haben: „Kim bold - geah bold, kim bold – geah bold …“ Übersetzt: Komm bald, geh bald.
Das Bild über dem Seitenaltar zeigt die drei Mütter. In der Mitte Anna, rechts neben ihr Maria mit dem Christuskind und links Elisabeth mit dem jungen Johannes (dem Täufer). Diese Bild weist auf den roten Aspekt der dreigestaltigen Göttin, als Schenkerin von Liebe und Leben hin. Auch den weißen Aspekt finden wir hier. Frauen mit Kinderwunsch rutschten über die Fruchtbarkeitsrutsche des Tartscher-Bichl, um eine Kinderseele zu empfangen.


Auch im nahen Städtchen Glurns entdecken wir zahlreiche Hinweise auf die einstige Verehrung der dreigestaltigen Göttin in diesem bemerkenswerten Landschaftsraum. Im Stadtwappen finden wir die Farben der großen Göttin. Schwarz, Rot und Weiß. Innerhalb der Stadtmauern haben wir eine Marienkirche und eine Dreifaltigkeitskapelle. Außerhalb der Stadtmauern steht die Pankratius-Kirche mit einem Fresko der Anna Selbdritt im rechten Seitenaltar. Anna Selbdritt ist eine der vielen seltsamen Dreiheiten, die dem Volk von den kirchlichen Obrigkeiten als Alternative zu den im Volksglauben noch lange nach der Missionierung verehrten drei Bethen, den Nachfolgerinnen der dreigestaltigen Göttin, angeboten wurden.

Im unweit gelegenen Mals, einer kleinen Gemeinde mit 2000 Einwohnern, standen einst gleich sieben Kirchen. Fünf, darunter eine Marien-, eine Michaels- und eine Martinskirche, haben sich bis heute erhalten. Diese große Anzahl an Kirchen lässt auf eine sehr aufwendige und mit großer Anstrengung durchgeführte Missionierung der einstigen Bewohner schließen, die hier wahrscheinlich sehr lange und hartnäckig ihre große Göttin verehrt haben. Mals leitet sich vom indogermanischen Mal/Mel ab. Eine Malstätte war ein Volksversammlungsplatz, was auf einen früheren jungsteinzeitlichen Kultplatz zu Ehren der großen Göttin schließen lässt. Dazu passt, dass einer der größeren Ansitze den Namen Lichtenegg trägt. Lichtenegg bedeutet das „Licht, also Feuer, auf der Anhöhe (Egg)“. Der Lichtenegger war verantwortlich, dass der Scheiterhaufen immer parat war, um jederzeit angezündet zu werden. Feuer war das Fernkommunikationsmittel der Jungsteinzeit. Wenn die Priesterinnen durch ihre astronomischen Beobachtungen einen großen Festtag ermittelt hatten, wurde das Feuer entzündet, damit die ganze Sippe, nah und fern, diesen Festtag begehen konnte.
Auch in den Sagen der Gegend erkennen wir die ursprüngliche Bedeutung dieses Ortes:
Als einmal wieder Fastnacht herannahte, ersannen sie zu ihrer Ergötzung ein recht grausames Stückchen. Sie zogen nämlich einem lebendigen Ochsen die Haut ab, bestreuten diesen sodann über und über mit Salz und ließen so das gequälte Tier, welches vor brennenden Schmerzen fürchterlich brüllte, durch die Stadt laufen.
Die Unmenschen ergötzten sich an seinen Zuckungen und Klagetönen. Endlich blieb das arme Tier in der Mitte der Stadt stehen und brüllte gewaltig mit gegen Himmel gekehrten Augen, als ob es Rache auf seine Peiniger herabflehte. Und siehe: Auf einmal zuckte es durch die Lüfte, die Stadt wankte und bebte, und im Nu war sie in den Abgrund versunken. Heutzutage sieht man noch quadratförmige Vertiefungen als Spuren der versunkenen Häuser, und wenn man mit dem Fuße darauf stampft, so hallt es hohl durch den Boden. Einmal soll ein Hirte nachgegraben haben, infolgedessen er eine dunkle Vertiefung entdeckte. Er ließ sich mit Hilfe einiger Bewohner von Tartsch an einem Seil hinunter und hatte auch eine Laterne bei sich. Bald befand er sich in einem ehemaligen Zimmer, wo um einen Tisch herum einige menschliche Gestalten saßen, welche bei der ersten Berührung gleich in Staub zerfielen. Der Hirte nahm dann einige Teller und Flaschen, welche auf dem Tische standen, und ließ sich wieder in die Höhe ziehen.
Später wagte es niemand mehr, sich hinunterzulassen; auch nahm man sich nicht mehr die Mühe, nachzugraben. Der Tempel jener Stadt bleibt aber als warnendes Zeugnis stehen.
Diese Sage erzählt uns von den in der Anderswelt oder Unterwelt, bei der Göttin in ihrem schwarzen Aspekt verborgenen Schätzen. Dabei handelt es sich nicht um materielle Schätze, sondern um die magischen Künste, in welche die frühen Bewohner an diesem Ort eingeweiht wurden. Dieser Initiationsprozess wird in der Sage symbolisch durch das Bergen der Teller und Flaschen aus der Unterwelt beschrieben. Die Teller stehen für die Speisen und die Flaschen für die Getränke, also für die Fülle und Überfülle des Jenseitsparadieses, die den Menschen von der großen Göttin geschenkt wurden. Sie beschenkte die Menschen mit den damals magischen Künsten. Unter anderem mit der Kunst des Ackerbaus, der Viehzucht, der Kunst des Weinkelterns und der Honiggewinnung.
Auch das Brauchtum am Ort erzählt uns viel über die ursprüngliche Bedeutung dieses Ortes. Am ersten Fastensonntag, dem sogenannten Kassonntag oder auch Funkensonntag findet das Scheibenschlagen statt. Scheiben aus Zirbenholz mit einem Loch in der Mitte (Flatterscheibe) werden in einem Feuer zum Glühen gebracht. Wenn die Glut passt, werden sie im Loch von einer Haselrute (Gaart) aufgespießt. Der oder die Schlägerin dreht sich nun mit der Rute und der Scheibe schnell beschleunigend um die eigene Achse, um die Scheibe schließlich an einem Holzpflock von der Rute so abzuschlagen, dass sie im hohen Bogen, als funkensprühende, rote glühende Scheibe über den Hügel ins Tal fliegt.

Die Scheibe erinnert an den roten Vollmond, das Symbol der Göttin in ihren roten Aspekt, der Schenkerin von Liebe und Leben, deren Zeit der Sommer ist, und die alles fruchtbar werden lässt. Durch dieses Ritual riefen die Menschen die rote Göttin an und baten sie um Fruchtbarkeit und reiche Ernte. Parallel wird die „Hexe“, die durch das Christentum dämonisierte Göttin in ihrem schwarzen Aspekt, in Form einer Strohpuppe verbrannt. So unterstützt die Bevölkerung symbolisch die Wirkkräfte des ewigen Zyklus der Göttin von Werden, Sein, Vergehen und Wiederkehr, auf das nun endlich der Frühling und der Sommer kommen mag.
Mit dem Abschlagen wird auch ein Reim gesprochen. „O Reim, Reim, fir wen weart eppr dia Schaib sein. Dia Schaib und meine Kniaschaib werdn fir (hier folgt der Name der Person, der die Scheibe gewidmet ist) sein. Geat si guat, geat sie schlecht, soll’s sie’s (Name der Person) mir net veribl hobm. Hoaß, hoaß, olte Goaß.“
Übersetzt: O Reim, Reim für wen wird wohl die Scheibe sein. Die Scheibe wird für meine (Name der Geliebten) sein. Geht (fliegt) sie gut, geht sie schlecht, soll sie (Name der Geliebten) es mit nicht übelnehmen. Heiß, heiß, alte Gais.
In diesem Reim erkennen wir die matriarchalen Hochzeitswettspiele durchscheinen, bei denen die Männer um die Gunst der Erbprinzessin buhlten. Wurden sie erwählt, erlangten sie die Königswürden für den kommenden Zyklus und wurden zu ihrem Heros.
Hier am mystischen Tartscher Bichl erkennen wir in der christlichen Symbolik, den Sagen, den Legenden, dem Brauchtum und in den steinernen Zeugen, die uns die gelebte archaische Praxis der frühen Menschen erzählen, alle drei Aspekte der Dreigestaltigen, die hier einst entlang des Jahreskreises verehrt wurden. Der mystische Tartscher Bichel und seine Umgebung waren Initiations- und Einweihungsort, Orakelplatz, Kinderherkunftsort, ein Platz für Fruchtbarkeitsriten und Opferplatz für (Ernte)Dank-Feste.
Zum Thema passendes Seminar und Exkursionen.
Der Tartscher Bichl ist einer von mehreren bemerkenswerten mystischen Orten, die wir im Rahmen der Südtirol-Exkursion „Mystisches Südtirol | Geomantische Erlebnis-Exkursion zu Kult und Kraftplätzen“ besuchen werden.
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