Im Jahreslauf sind wir in der Fülle und dem großen Licht angekommen. Es ist die hohe Zeit im Jahr und alles drängt ins Äußere. Und doch ist der Samen für die bald aufkommende dunkle Zeit schon gelegt. Unaufhörlich dreht sich das Jahresrad weiter und begleitet uns durch die unterschiedlichsten Pole. Vom Hellen ins Dunkle und wieder zurück ins Helle, von der Wärme in die Kälte und wieder zurück in die Wärme, vom Inneren ins Äußere und wieder zurück ins Innere, von der Blüte zur Frucht und wieder zur Blüte. Alles hat seine Zeit und wir sind, genauso wie alles andere im unendlichen Kosmos, eingebunden in diesen ewigen Zyklus vom Werden, Sein, Vergehen und Wiederkehr.
So ist jeder Punkt entlang des Jahresrads gleichzeitig ein Festpunkt, aber auch ein Punkt, eine Zeit des Übergangs. Das Jahresrad bleibt nicht stehen. Das achtspeichige Jahresrad ergibt sich aus den vier wichtigen Mondfesten im Februar, Mai, August und November und den vier Sonnenfesten, die die Menschen seit Anbeginn ihrer Zeit in ihren Bann zogen. Neben den Tagundnachtgleichen im Frühling und im Herbst und der Wintersonnenwende zu Mittwinter war es auch der Mittsommer mit der Sommersonnenwende. Es sind besondere Schwellensituationen im Jahreslauf. Während der Tagundnachtgleichen halten sich Hell und Dunkel genau die Waage, zu Mittwinter dominiert der dunkle Pol und zu Mittsommer der helle Pol. Hell und Dunkel haben ihre Zeit und lösen einander rhythmisch ab, bedingen und ergänzen einander und wir dürfen mitschwingen und uns tragen lassen von diesen ewigen Gezeiten.
Auch heute noch hat dieser ewige Rhythmus nichts von seinem Reiz verloren – sofern wir uns darauf einlassen und uns einbringen.
Unsere Vorfahren haben ihre Welt aus dem Beobachten heraus erfahren, begriffen und gedeutet. Sie erkannten sich eingebunden und getragen von diesem ewigen Zyklus. Sie erkannten auch eine unsichtbare, göttlich-weibliche Kraft, die dieses Rad des Lebens immer weiterdrehte und in Schwung hielt. Es war ihre große Schöpfergöttin, die alles Leben hervorbrachte und zu allen Zeiten hervorbringen würde, um es am Ende wieder zu sich zurückzuholen, zu verjüngen, zu erneuern und von Neuem auf die Welt zurückzuschicken. Sie war der personifizierte Zyklus, die Herrin über die großen Mysterien von Liebe, Tod und Leben und zeigte sich in ihren verschiedenen Aspekten entlang des Jahresrades.
Der Herbst ist die personifizierte Dürre, die weise Alte im schwarzen Gewand, die als wilde Jagd übers Land fegt und die Seelen der Verstorbenen zu sich holt, und durch den Jungbrunnen der Erneuerung führt – auch sich selbst. Zu Mittwinter erscheint sie als junges Mädchen im weißen Kleid und legt den Samen bzw. ist selbst der große Samen, das Schicksal für das neue Jahr. Sie wandelt über das Land und überall dort, wo sie oder ihr Gefolge es berührt, beginnt die Natur zu erwachen. Im Sommer schließlich erscheint sie als erwachsene Frau und große Schenkerin. Sie schenkt den Menschen das Leben und die Liebe. Sie lässt aus der Blüte die Früchte entstehen und das Korn reifen. Die goldenen Ähren sind ihre Kornkinder, die sie den Menschen schenkt.
So ist der Mittsommer ein Fest des Lebens und der Liebe, es ist die Hochzeit des Jahres und die Zeit der Sommerfeste. Die Menschen feiern und begleiten die kosmischen Naturvorgänge mit Ritualen im Rahmen der großen Mysterienfeste. Auch zu Mittsommer unterstützen die komplexen Rituale im Mikrokosmos die Naturprozesse im Makrokosmos. Sie unterstützen die große Göttin damit sie das Jahresrad immer weiterdrehen kann. Die Feste und Rituale stehen auch zu Mittsommer im Einklang mit dem Vegetationszyklus, der ab der Sonnenwende die Früchte und das Korn reifen lässt. Die Göttin und Schicksalsfrau erscheint als Kornmutter mit ihren Kornkindern, den goldenen Ähren und schenkt sie dem Menschen. Sie ist Personifikation der Jahreszeit. Als Sommer trägt sie jetzt ihr rotes Kleid, rot wie der volle Sommermond, der im Juli und August im Osten aus der Erde heraus geboren wird. Sie schenkt der Natur die höchste Lebenskraft. Kräuter, die zu Mittsommer gesammelt werden, sind besonders heilkräftig. Hier ist vor allem das Sonnwendkraut, das um diese Jahreszeit leuchtend gelb blüht, hervorzuheben.
Rituale und Brauchtum zu Mittsommer
Schwellen und Übergänge wurden immer rituell begangen. Altes sollte gehen können, damit das Neue seinen Platz bekommen kann. Dabei kommt den beiden kosmischen Urelementen Wasser und Feuer eine vorrangige Bedeutung zu und waren fester Bestandteil der Rituale zu Ehren der vorchristlichen Göttin. Viele dieser uralten Rituale haben sich bis heute als Brauchtum gehalten.
Beim Sunnwendrachn (Sonnenwenderäuchern) wird die Glut des heruntergebrannten Sonnwendfeuers dicht mit Reisig zugedeckt, sodass sich ein kräftiger Rauch entwickelt. Die Rauchschwaden des Sunnwendhaufens ziehen über die Wiesen und Felder in alle Richtungen hinunter ins Tal und reinigen Flur, Haus und Hof. Anschließend sind alle Anwesenden eingeladen, sich durch einen rituellen Sprung durch den Sunnwendrach abzuräuchern. Dabei tragen sie einen Sunnwendgürtel aus Wermut um den Leib, der Krankheit und Leid aus dem Körper herausziehen soll. Der Gürtel wird anschließend rituell in der Glut des Sonnwendfeuers verbrannt.
Aber zu Mittsommer wird auch dem Wasser besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Kupala, die slawische Göttin und Wassermutter, hat ihre hohe Zeit ebenfalls zu Mittsommer. Ein Bad am Morgen der Sonnenwende in den Flüssen reinigt die Seele mit dem Tau der Kupala, der sich in der Nacht ihres Festes ansammelt. Weihegaben aus Blumen oder Blumenkränzen schenken die Menschen den Brunnen und Flüssen. In ihnen erkannten die Menschen die personifizierte Wassermutter.
Im Auge der aufkommenden Kirche waren die vorchristlichen Jahreskreisfeste zu Ehren der großen Göttin und ihren magischen Kräften jetzt heidnische Bräuche und wurden von christlichen Heiligen eingenommen und übernommen. Das Mittsommerfest wurde Johannes dem Täufer untergeordnet. So kam auch das heilige Frauenkraut der Göttin zu seinem heutigen Namen Johanniskraut.
In der russisch-orthodoxen Kirche ist Johannes der Täufer Iwan Kupala. Die Sommersonnenwende ist der Iwan-Kupala-Tag. In dieser Bezeichnung scheint heute noch die Wassermutter Kupala und ihre Festzeit sehr deutlich durch.
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